Vielvölkerstaat, religiöse Spannungen und ein Präsident, der seit Monaten krank im Ausland ist: In Nigeria wächst die Sorge um die fragile Demokratie.
In Nigeria geht die Angst vor einem Staatsstreich um. Ein Machtvakuum hat sich im bevölkerungsreichsten Land Afrikas aufgetan. Der Präsident des Landes, Umaru Musa Yar'Adua, ist seit Ende November in medizinischer Behandlung in Saudi-Arabien. Seither hat ihn die Öffentlichkeit nicht mehr gesehen. In so einem Fall sollte der Vizepräsident die Amtsgeschäfte weiterführen (siehe "Aktuelle Entwicklung"). Doch Yar'Adua hinterließ dem zweiten Mann im Staat kein offizielles Ernennungsschreiben. Zudem hätte der Präsident laut Verfassung seine Abwesenheit – sei es aufgrund von Krankheit oder Urlaub – dem Parlament melden müssen. Auch dies geschah nicht. Seit über zwei Monaten schlingert die nigerianische Regierung ohne Führung – und ohne dringende Aufgaben zu erledigen.
Weltweit sichtbar wurde die kopflose Regierung durch den vereitelten Terroranschlag auf ein US-amerikanisches Flugzeug zu Weihnachten. Der Täter war Nigerianer, die USA setzte das Land auf die US-Terrorliste. Hätte der nigerianische Präsident sofort mit Präsident Barack Obama gesprochen, hätte vielleicht eine Chance bestanden, dass Nigeria nun nicht als Terrorland in den Augen der USA gälte. Die Klagen der nigerianischen Informationsministerin, die sich um den Ruf des Landes sorgte, reichten bei einem solchen Ereignis nicht. "Wir können keine Partnerschaft haben, wenn keiner am anderen Ende der Telefonleitung ist", schrieb die einflussreiche amerikanische Online-Publikation "Huffington Post".
Eine Woche später stand die Neujahrsansprache an. Um das nigerianische Volk nicht ohne offiziellen Segen der Regierung ins neue Jahr starten zu lassen, übernahm der Vizepräsident diesen Part. Auch das ein Signal für die Nigerianerinnen und Nigerianer, dass es nicht gut um ihren Präsidenten steht. Schwerwiegender und verfassungsrechtlich bedenklich wurde die Abwesenheit Yar'Aduas dann aber endgültig, als der neue oberste Richter angelobt werden sollte. Eine Amtshandlung, die der Präsident leisten muss. Letztlich nahm der alte oberste Richter seinem Nachfolger den Eid ab. Damit brachte die Regierung die Opposition, JuristInnen und die Zivilgesellschaft des Landes gegen sich auf. Sie sahen einen Verfassungsbruch. Eine Bürgerrechtsorganisation erklärte den Präsidenten vor Gericht sogar als vermisst. Zudem kam die Forderung von JuristInnen, dass alle Regierungsbeschlüsse während der Abwesenheit von Yar'Adua als nichtig betrachtet werden müssten.
Spätestens danach fragten sich viele NigerianerInnen, wer eigentlich Zugang zum kranken Präsidenten hat. Von offizieller Seite heißt es stur, der Präsident sei auf dem Weg der Besserung und leide an einer akuten Entzündung des Herzbeutels sowie seit Längerem an Nierenversagen. Aber die Gerüchteküche verstummt nicht und will den Präsidenten im Koma oder gar tot wissen.
Die Unterschrift zum neuen Haushaltsgesetz halten viele sogar für eine pure Fälschung der Signatur des Präsidenten. Die ehrgeizige nigerianische Wochenzeitung "Next", gegründet von einem Pulitzer-Preisträger, berichtete, dass Yar'Aduas Hauptsekretär mit dem Haushaltsgesetz nach Saudi Arabien geflogen war, um von seinem Chef die Unterschrift zu bekommen. Aber auch er durfte den Präsidenten nicht sehen und musste dem persönlichen Sicherheitschef des Präsidenten die Dokumente aushändigen. Später, so berichtet "Next" weiter, kam dieser mit der unterschriebenen Version zurück.
Wer sind also die Leute, die darüber bestimmen, welche Informationen vom nigerianischen Präsidenten nach außen dringen? Wole Soyinka, Literaturnobelpreisträger und moralische Instanz des Landes, gab die Antwort auf einem Protestmarsch zum Parlament Mitte Jänner. Er wurde mit den Worten zitiert: "Eine kleine Gruppe um den Präsidenten hat jetzt die Kontrolle."
In Nigeria berichten Medien von einer Clique von vier bis fünf Personen, die entscheiden, was in das bzw. aus dem Krankenzimmer des Präsidenten hinein- und herauskommt. Eine entscheidende Rolle spielt anscheinend Yar'Aduas Ehefrau Turai Yar'Adua. Darin stimmen die Berichte überein. Die nigerianische Tageszeitung "The Guardian" nennt neben der Ehefrau auch den persönlichen Sicherheitschef des Präsidenten und dessen Verbindungsoffizier zur Armee. Sie haben überproportional an Einfluss gewonnen. Daneben werden vier Personen aus der Politik genannt: ein Jugendfreund Yar'Aduas, der zugleich Parlamentsabgeordneter ist; der Chefberater für Wirtschaftsfragen; der Landwirtschaftsminister und schließlich der Chefberater für Protokollfragen.
Mehrere Gouverneure und Senatoren reisten nach Saudi Arabien. Aber keinem wurde Zutritt zum Präsidenten gewährt. Niemand sagt dem nigerianischen Volk, was los ist und was geschehen wird. Noch schlimmer: Niemand innerhalb Nigerias scheint es wirklich zu wissen – weder die Parteifreunde Yar'Aduas noch sonstige AmtsträgerInnen des Landes. Die gegenwärtige Situation gleicht einem Orakel, bei dem wenige Hohepriester die Informationsquellen interpretieren.
Ungewissheit und Unberechenbarkeit sind in Nigeria nichts Neues. Das Militär hat solche unruhigen Zeiten oft genutzt, um die Macht zu ergreifen. Das wissen die NigerianerInnen nur allzu genau. Denn die gegenwärtige demokratische Phase erstreckt sich gerade einmal über zehn Jahre.
Der kleine Kreis, der Yar'Adua sehen darf, ist nicht repräsentativ für das Land. Bis auf die beiden Sicherheitspersonen kommen alle aus dem Norden des Landes und teilweise aus demselben Bundesstaat wie Yar'Adua. Dieser Aspekt spielt im Vielvölkerstaat Nigeria eine kaum zu überschätzende Rolle. Die Machtverteilung unter den 150 Millionen Nigerianerinnen und Nigerianern ist höchst heikel. Politische Ämter sind nach einem Quotenschlüssel vergeben. Präsident, Vizepräsident und die SprecherInnen von Senat und Unterhaus müssen alle aus unterschiedlichen Regionen kommen. Gleiches gilt für die BundesministerInnen. Das hat allerdings zur Folge, dass es praktisch eine Doppelbesetzung gibt: Für jedes Ministerium hat der Präsident auch einen persönlichen Berater, der im Zweifelsfall eher das Ohr des Präsidenten gewinnt.
Zudem gibt es in Nigeria das ungeschriebene Gesetz des Rotationsprinzips bei der Vergabe des Präsidentenamtes. Der Vorgänger von Umaru Musa Yar'Adua kam aus dem Süden. Jetzt erwartet die politische Kaste des Nordens, dass sie auch für zwei Legislaturperioden den Präsidenten stellt. Denn politische Posten werden in Nigeria de facto mit Geld aufgewogen: Der Präsident vergibt viele Posten und lukrative Staatsaufträge. Präsident Yar'Adua ist erst seit knapp drei Jahren im Amt. Sollte der Vizepräsident jetzt übernehmen, würde der Argwohn im Norden wachsen, weil er aus dem Süden kommt.
Während es keine genauen Informationen über den wahren Gesundheitszustand des Präsidenten gibt, hat hinter den Kulissen bereits das Geschiebe um Posten begonnen. Sollte Yar'Adua nicht mehr zurückkommen oder unfähig sein, die Amtsgeschäfte wieder aufzunehmen, ist entscheidend, wer der zukünftige Vizepräsident sein wird. Ein mögliches Szenario ist, dass Vizepräsident Jonathan Goodluck für eine gewisse Zeit Platzhalter des Präsidentenamts bleibt und dann an einen neuen Vize übergeben wird, der aus dem Norden kommen dürfte. Kurzfristig von Gerichten gefällte Urteile geben Goodluck das Recht, die Amtsgeschäfte zu führen, aber der Status als offizielles Staatsoberhaupt bleibt ihm versagt (siehe "Aktuelle Entwicklung").
Die aktuelle Situation ist ein Paradebeispiel dafür, wie Politik in Nigeria an Individuen hängt. Auf Institutionen bezogene Entscheidungen hinken hinterher, obwohl Yar'Adua eine Abkehr von Individualinteressen auf seine Fahnen geschrieben hatte. Die nigerianische Verfassung gibt für den akuten Fall klare Richtlinien vor, doch die AkteurInnen handeln nach eigenen Maßstäben. Der Konflikt zwischen der Zivilgesellschaft Nigerias, die auf transparente Regierungsführung pocht, und einer politischen Klasse, die je nach Region ihre eigene Interessen verfolgt, zeigt zunehmend absurde Folgen. So wurde in Zeitungen Yar'Adua an einem Tag als Komapatient beschrieben, am nächsten Tag gibt es ein angebliches einminütiges Telefongespräch des Präsidenten mit dem britischen Radiosender BBC. Jetzt verlangen skeptische NigerianerInnen eine Live-Fernsehschaltung zum Krankenbett des Präsidenten.
Dabei werden die Probleme des Landes immer dringender. Der Frieden im Erdöl produzierenden Nigerdelta steht wieder auf der Kippe. Mitte Jänner gab es seit Langem wieder eine Entführung von Ausländern. Militante im Nigerdelta betonen, dass die Zukunft und der Frieden in der Region nicht an der Gesundheit eines Mannes hängen können. Das von Yar'Adua gesetzte Ziel, bis Ende vergangenen Jahres 6.000 Megawatt Strom für das notorisch unterversorgte Land zu produzieren, wurde verfehlt. Und nur wenige in Nigeria hoffen noch auf Yar'Aduas groß angekündigte, ambitionierte 7-Punkte-Agenda, die das Land vorwärts bringen soll.
Die Forderungen nach einem offiziellen Abtritt von Präsident Umaru Musa Yar'Adua nehmen zu. Provokant titelte eine Zeitung: "Pack deine Sachen und geh nach Hause." Die Menschen auf der Straße haben die Geduld mit dem Staatschef verloren. Seit bald zwei Monaten gibt es nicht genügend Benzin im Land. Transport ist um ein Vielfaches teurer geworden und damit auch alle anderen Konsumgüter. Und auch wenn die Bundesregierung Truppen ins zentralnigerianische Jos geschickt hat, um die jüngsten Unruhen zwischen Muslimen und Christen unter Kontrolle zu bringen, haben die Nigerianerinnen und Nigerianer ein weiteres Stück Hoffnung auf eine baldige funktionierende demokratische Gesellschaft verloren.
Hakeem Jimo ist Westafrika-Korrespondent der Berliner Tageszeitung taz und des ARD-Hörfunks. Er lebt in Benin/Nigeria.
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